Heute möchte ich eine Geschichte mit dir teilen, die wunderbar zu meinen letzten beiden Montags-Impulsen passt. Johannes, Mitbegründer von den Feldhelden Rheinland (Werbung ohne Auftrag), hat mich darauf aufmerksam gemacht. Ganz lieben Dank dafür, ich freue mich immer sehr über Inspirationen meiner Leser*innen.
„Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen
– Erwachsenen, damit sie aufwachen.“
(Jorge Bucay)
Die Stadt der Brunnen
„Die Stadt war nicht wie alle anderen Städte dieses Planeten von Menschen bewohnt. Diese Stadt wurde von Brunnen bewohnt. Von lebenden Brunnen zwar, aber von Brunnen eben.
Die Brunnen unterschieden sich nicht nur durch ihren jeweiligen Standort, sondern auch durch die Art der Öffnung, die sie mit der Außenwelt verband.
Es gab prächtige Brunnen mit Marmorrand und kostbaren Schmiedeeisen, einfache Brunnen aus Holz und Backstein und noch ärmlichere, karge Löcher, die sich einfach in der Erde auftaten.
Die Verständigung der Stadtbewohner spielte sich von Brunnenöffnung zu Brunnenöffnung ab und Nachrichten verbreiteten sich in Windeseile.
Irgendwann tauchte in der Stadt eine neue Mode auf, die sicherlich in irgendeinem Menschenort ihren Ursprung hatte.
Der neue Gedanke bestand darin, dass jedes Lebewesen, das etwas auf sich hielt, größeren Wert auf sein Inneres als auf sein Äußeres legen sollte. Wichtig war nicht die Oberfläche, sondern der Inhalt.
Also begannen sich die Brunnen mit Gegenständen zu füllen. Einige füllten sich mit Schmuck, Goldmünzen und Edelsteinen auf. Andere, praktischer veranlagte, füllten sich mit Elektro- und Haushaltsgeräten. Wieder andere entschieden sich für die Kunst und füllten sich mit Bildern, Klavieren und raffinierten, postmodernen Skulpturen. Die Intellektuellen unter ihnen schließlich füllten sich mit Büchern, ideologischen Traktaten und Fachzeitschriften.
Die Zeit verging.
Die meisten Brunnen hatten sich derart angefüllt, dass sie nichts mehr fassen konnten.
Nicht alle Brunnen waren gleich, und während manche sich mit ihrem Zustand zufrieden gaben, fanden andere, dass sie etwas tun mussten, damit sie noch mehr Dinge in sich hineinstopfen könnten …
Einer machte den Anfang. Statt seinen Inhalt noch mehr zusammenzupressen, kam ihm der Gedanke, sein Fassungsvermögen zu vergrößern, in dem er sich erweiterte. Es dauerte nicht lange, da fand die Idee Nachahmer:
Alle Brunnen verwendeten nun einen Großteil ihrer Energie darauf, sich zu erweitern, um ihren Innenraum zu vergrößern.
Einem kleinen Brunnen vom Stadtrand fiel die Maßlosigkeit auf, mit der sich seine Kameraden ausdehnten. Wenn sie so weitermachten, dachte er, würden sie bald mit den Ränder aneinander stoßen und ihre Identität verlieren …
Dieser Gedanke brachte ihn darauf, dass es noch eine andere Wachstumsrichtung gab, und zwar nicht in die Breite, sondern in die Tiefe. Tiefer werden statt größer.
Schon bald stellte er fest, dass alles, was er in sich trug, ihn daran hinderte, tiefer zu werden. Wenn er tiefer werden wollte, musste er sich von seinem ganzen Inhalt befreien …
Zuerst fürchtete er sich vor der Leere. Doch als er sah, dass es keine andere Möglichkeit gab, machte er sich ans Werk. Von allem Besitz befreit, wurde der Brunnen tiefer und tiefer, während sich die anderen die Dinge nahmen, deren er sich entledigt hatte …
Eines Tages erlebte der Brunnen, der in die Tiefe wuchs, eine Überraschung: In seinem Inneren, ganz tief unten, stieß er auf Wasser! Noch nie zuvor war ein anderer Brunnen auf Wasser gestoßen …
Nachdem sich unser Brunnen von seiner Überraschung erholt hatte, begann er mit dem Wasser zu spielen. Er befeuchtete die Brunnenwände, benetzte den Brunnenrand, und schließlich ließ er das Wasser nach außen sprudeln.
Noch nie war die Stadt anders bewässert worden als durch den Regen, der allerdings ziemlich selten fiel. So kam es, dass die Erde rings um den Brunnen durch das Wasser zu neuem Leben erwachte. Die Samen im Boden gingen auf und wurden zu Gras, Klee, Blumen und zarten Schösslingen, aus denen später Bäume emporwuchsen …
In allen Farben explodierte das Leben rings um den abgelegenen Brunnen, den man „den Garten” zu nennen begann.
Alle fragten ihn, wie er dieses Wunder vollbracht habe. “Es ist kein Wunder”, antwortete der Garten. “Man braucht bloß in seinem Inneren zu suchen und dabei ganz in die Tiefe zu gehen …“
Viele wollten dem Beispiel des Gartens folgen, ließen es aber bleiben, als ihnen klar wurde, dass sie sich zuerst leeren mussten, um in die Tiefe zu gelangen. Stattdessen wuchsen sie immer weiter in die Breite, um sich mit noch mehr Dingen füllen zu können …
Doch am anderen Ende der Stadt unternahm ein weiterer Brunnen das Wagnis und leerte sich. Auch er wurde immer tiefer. Und auch er stieß auf Wasser …
Und auch er sprudelte über und schuf eine zweite grüne Oase in der Stadt.
“Und was machst du, wenn das Wasser versiegt?” wurde er gefragt. “Ich weiß nicht, was dann ist”, antwortete er. “aber im Moment ist umso mehr Wassre da, je mehr ich hervorsprudeln lasse.“
Es vergingen einige Monate, bis die beiden Brunnen durch Zufall entdeckten, dass es sich bei dem Wasser, auf das sie in der Tiefe ihrer selbst gestoßen waren, um ein- und dasselbe Wasser handelte …
Derselbe unterirdische Fluss, der unter dem einen hinweg floss, füllte auch den anderen. Ihnen wurde klar, dass sich ihnen eine neue Welt eröffnete. Sie konnten sich nicht nur oberflächlich von Brunnenrand zu Brunnenrand verständigen wie all die anderen, Stattdessen hatte ihre Suche ihnen eine neue, geheime Verbindung eröffnet: den tiefen Austausch, der nur denen möglich ist, die den Mut haben, sich innerlich leer zu machen und tief im Inneren nach dem suchen, was sie zu geben haben.“
Eine Geschichte von Jorge Bucay aus dem Buch „Der innere Kompass“ (Werbung).
…
Wir füllen unser Leben oft randvoll mit Terminen, Dingen und Informationen, dass kaum mehr Zeit bleibt, um in die Tiefe zu gehen.
Der Januar ist für mich der Monat des Loslassens.
Was kannst du loslassen, um dir mehr Raum und Zeit für das tiefe Erfahren des Lebens zu schaffen?
Ich wünsche dir im positiven Sinne mehr Leere und Tiefe im Leben,
Katja
Mein neues Buch ist da: Ein Mutmacher!
52 Denkanstöße und Mutmacher für herausfordernde Zeiten.
Wir alle erleben herausfordernde Zeiten – individuell und kollektiv. Mit diesen Montags-Impulsen möchte ich dich einladen, diesen Zeiten mit Vertrauen und Mut zu begegnen.
Die Denkanstöße und Übungen können dir neue Blickwinkel und Möglichkeiten eröffnen, um deinen Weg über die Berge und durch die Täler des Wandels zu gestalten; dich bestärken dein Selbst für ein besseres Miteinander zu entfalten.