Neulich stand ich am Bahnhof. Der Zug fuhr ein und ich beobachtete, wie Menschen in den Zug strömten: jede Person für sich, aber alle miteinander Teil eines größeren Stroms. Einer dieser Momente, in denen ich etwas Alltägliches plötzlich klarer sehe, indem ich selbst innerlich einen Schritt zurücktrete.
Es lag eine gewisse Beschleunigung in der Luft, Anspannung und Druck.
Und gleichzeitig konnte ich kleine Gesten der Rücksichtnahme beobachten – jemand wartet kurz, damit ein Kind in Ruhe einsteigen kann, eine andere Person begleitet einen unsicher wirkenden Mann den Sitzplatz zu finden, eine weitere Person hilft einen Koffer nach oben auf die Ablage zu heben.
Natürlich gab‘ es auch andere Situationen: Drängeln, Augenrollen, Motzen. Doch ich wollte meine Aufmerksamkeit bewusst auf die Gesten der Achtsamkeit und des Mitgefühls lenken – wahrnehmen, dass auch das eine Möglichkeit ist in all dem Trubel.
Die zwei Flügel der Freiheit
Wir leben in einer Zeit, die zwei scheinbar widersprüchliche Erwartungen an uns stellt:
Wir sollen schneller werden und empathischer sein, effizient und zugleich menschlich. Oft versuchen wir, diese Anforderungen nacheinander oder gegeneinander zu erfüllen – mal funktioniert der „Aktionsmodus“, mal der „Beziehungsmodus“. Aber selten beides gleichzeitig.
So entsteht das Gefühl, als würden wir mit nur einem Flügel schlagen:
Wir kommen voran, aber es kostet Kraft, und die Richtung bleibt schwer steuerbar.
Im Buddhismus spricht man davon, dass es zwei Flügel braucht, um wirklich frei und stabil fliegen zu können: Achtsamkeit und Mitgefühl. Erst im Zusammenspiel entsteht eine Bewegung, die trägt – im persönlichen Alltag ebenso wie im gesellschaftlichen Miteinander.
Der eine Flügel: Achtsamkeit
Achtsamkeit ist mehr als ein persönliches Werkzeug. Sie hat eine gesellschaftliche Wirkung, weil sie uns aus der automatischen Reaktion herausholt.
In einer Welt, die uns ständig anschiebt, wird bewusstes Wahrnehmen zu einer Art (Selbst-)Verantwortung:
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Was geht gerade in mir vor?
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Was passiert in meinem Umfeld?
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Welche Dynamiken beeinflussen uns alle?
Achtsamkeit schafft einen kleinen Moment Abstand – und damit eine Wahlmöglichkeit.
Darin liegt ein erster Hauch von Freiheit: nicht sofort reagieren zu müssen.
Der andere Flügel: Mitgefühl
Mitgefühl wirkt ebenfalls weit über das Individuelle hinaus. Es verändert die Art, wie wir miteinander umgehen – nicht groß, nicht spektakulär, sondern im Alltäglichen.
Es bedeutet:
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nicht gleich hart zu werden, wenn jemand gereizt ist,
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die eigene Überforderung wahrzunehmen, ohne sich zusätzlich zu verurteilen,
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anzuerkennen, dass jede Person eine Geschichte trägt, die man nicht sieht.
Mitgefühl erweitert den inneren Spielraum. Es lässt uns menschlicher agieren, selbst dann, wenn Situationen eng oder herausfordernd sind. Auch das ist eine Form von Freiheit: nicht vom eigenen Ärger oder Urteil getrieben zu sein. Sich auf das zu beSINNen, wozu wir in dieser Welt wahrhaftig beitragen wollen.
„Die Liebe und das Mitgefühl sind die Grundlagen des Weltfriedens
– auf allen Ebenen.“
Dalai Lama
Mit beiden Flügeln fliegen
Achtsamkeit ohne Mitgefühl kann streng werden.
Mitgefühl ohne Achtsamkeit kann uns überfordern.
Gemeinsam jedoch öffnen sie etwas:
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Achtsamkeit zeigt, was ist.
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Mitgefühl zeigt, wie wir damit umgehen können.
Zwischen diesen beiden Bewegungen entsteht ein Raum, in dem wir uns weniger getrieben fühlen – von Erwartungen, Stimmungen, Automatismen. Ein Raum, in dem wir bewusst und liebevoll handeln können statt nur aus der Anspannung zu reagieren.
Vielleicht ist das die Freiheit, die wir im Moment am meisten brauchen: eine innere Beweglichkeit, die uns Raum gibt und trägt, auch in der Dichte und Turbulenz des Zeitgeschehens.
Impuls für diese Woche
Beobachte dich in den kommenden Tagen:
Wo entsteht ein bisschen mehr Freiheit,
wenn ich einer Situation oder einem Menschen
sowohl achtsam als auch mitfühlend begegne?
Manchmal sind es kleine Momente, in denen sich die Enge und der Druck lösen
– ganz unaufgeregt.
Ich wünsche dir eine Woche, die dich diese Beweglichkeit spüren lässt,
Katja
P.S. Zu diesem Montags-Impuls möchte ich eine Buchempfehlung mit dir teilen:
Liebe! Ein Aufruf. von Daniel Schreiber.



